LUCY
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Interview mit Henner Winckler
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Wie ist die Idee zu Ihrem Film entstanden?
Die Geschichte von Lucy ist nicht so handlungsorientiert, dass
man einfach eine Idee hat und dann die Geschichte dazu herunterschreibt.
Es gab zunächst eine grobe Vorstellung von der Figur der Maggy, der
18jährigen Mutter im Film. Dann habe ich zusammen mit meinem Co-Autor
Stefan Kriekhaus Interviews mit einigen sehr jungen Müttern geführt.
Es gibt Fallen, in die man beim Schreiben fast automatisch tappt, weil
einem oft als erstes das Klischee einer Situation einfällt. Solche
Klischees haben wir im Lauf der Arbeit versucht zu erkennen und in andere
Möglichkeiten aufzulösen. Lucy erzählt eine einfache Geschichte – deshalb
muss man bei dem relativ Wenigen, das passiert, besonders aufpassen, Klischees
zu vermeiden. Wobei ich finde, dass ein Großteil der Klischees erst
während des Drehs vermieden wird, durch das Spiel oder die Ausstattung.
Ich mag zum Beispiel, dass Gordons Wohnung nicht wie eine versiffte Kifferbude,
sondern ziemlich ordentlich aussieht. Gleichzeitig wird nie richtig aufgeklärt,
wo die Dinge, die er verkauft, eigentlich herkommen – er könnte
auch kriminell sein. Die Charaktere sind auf diese Weise nicht eindeutig
festgelegt.
Auch in Ihrem Debüt Klassenfahrt sind die Protagonisten junge
Erwachsene. Ist diese Altersgruppe besonders interessant für Sie?
Der Film ist fast so etwas wie die Fortsetzung von Klassenfahrt.
Drei der Figuren – Sophie Kempe als Freundin von Maggy, Jakob Panzek
als Kumpel von Gordon und natürlich Gordon selbst – tauchen
jetzt in Lucy wieder auf. Für die Geschichte ist es natürlich
grundlegend, dass Maggy sehr jung ist. Sie hat Wünsche wie viele
18jährige Mädchen, aber durch ihr Kind lassen sich diese nicht
mehr so einfach verwirklichen. Ich wollte eine Figur, die wie ein Teenager
lebt, dann in eine feste Beziehung gerät und schließlich wieder
allein dasteht. Bei Erwachsenen zieht sich so ein Ablauf meistens über
Jahre hin, bei einer Achtzehnjährigen lässt er sich auch anhand
eines einzigen Monats erzählen.
Wie arbeiten Sie mit den jungen Darstellern, die über wenig
Dreherfahrung verfügen?
Das kommt auf die Situation an. Natürlich habe ich klare Vorstellungen,
wie die Schauspieler spielen sollen, auch für die Art, wie sie zum
Beispiel etwas nicht sagen. Manchmal frage ich die Schauspieler,
ob sie selbst bestimmte Sätze aus dem Drehbuch so sagen würden.
Oder ich lasse sie spielen und schaue einfach zu, und wenn es mir nicht
gefällt, ändern wir es gemeinsam. Allerdings versuche ich, lange
Diskussionen zu vermeiden, und die letzte Entscheidung liegt natürlich
bei mir.
Bei Klassenfahrt haben wir viel improvisiert oder die Darsteller
mit etwas überrascht, was sie vorher nicht ahnten, zum Beispiel mit
unerwarteten Figuren, die plötzlich in eine Szene hineinplatzen.
Das haben wir dieses Mal nicht gemacht. Manchmal, wenn mir ein Dialog
zu auswendig gelernt vorkam, habe ich die Schauspieler gebeten, den Dialog
zu ändern, etwas anderes zu sagen als vorher, um das aufzubrechen.
Ich mag es gerne, wenn sich beim Drehen noch Sachen verändern und
die Schauspieler wirklich zuhören müssen, was ihr Gegenüber
sagt. Man spürt das im fertigen Film.
Wie haben Sie Ihre Darsteller gefunden, vor allem die Jugendlichen?
Das Casting, bei dem ich mit Ulrike Müller zusammengearbeitet habe,
war ein sehr langer und aufwendiger Prozess. Dazu gab es ein längeres
Straßencasting, bei dem noch einige andere geholfen haben. Von Kim
Schnitzer hatte mir Ulrike ein Tape gezeigt. Kim hatte bis dahin in drei
Kurzfilmen mitgespielt, z.B. in Anfänger von Nicolas Wackerbarth,
wo ich sie sehr überzeugend fand. Es gab etliche Castingtermine,
an denen wir Dialoge und Improvisationen geprobt haben, um zu schauen,
was sie aus der Rolle macht und wie ernst sie es meint.
Gordon Schmidt kannte ich von Klassenfahrt. Ich wusste,
dass er viel Talent hat und zuverlässig ist. Wichtig war zu sehen,
ob die beiden zusammen passen, ob sie sich verstehen. Feo Aladag schließlich
ist nicht nur eine gute Schauspielerin, sondern selbst Autorin und Regisseurin.
Sie war ebenfalls ein Tip von Ulrike Müller.
Ist die Rolle des Gordon explizit für Gordon Schmidt geschrieben?
Als ich das Drehbuch mit Stefan Kriekhaus geschrieben habe, haben wir
die Figur Gordon genannt, um uns jemanden vorstellen zu können. Aber
es war nicht klar, dass Gordon Schmidt das auch spielen würde. Wir
haben ihn am Ende genauso gecastet wie die anderen auch. Er war einfach
sehr souverän, und ich fand es immer toll ihm zuzuschauen. Am Ende
haben wir den Rollennamen dann so gelassen, weil wir uns daran gewöhnt
hatten und es Gordon nicht gestört hat.
Warum haben Sie sich entschieden, auf eine forcierte Dramatisierung
der Geschichte und die Ausleuchtung der Vorgeschichten zu verzichten,
die die Figuren haben?
Die ganze Geschichte wird eher so erzählt, wie ein neutraler Betrachter
sie wahrnehmen würde. Wenn man viel Hintergrund hat, dann erzählt
man eine Geschichte viel erklärender. Mir entspricht es eher, mir
ein Stück herauszunehmen, bei dem man sich das Davor und das Danach
denken kann. Ich glaube auch, dass man immer Gefahr läuft, zu vereinfachen
oder in Klischees abzurutschen, wenn man zu viel erklärt.
Wir wollten nicht das ganz große Drama machen, sondern uns über
das kleine ans große Thema heran erzählen. Maggys Freund sollte
deswegen kein Krimineller sein, das Kind sollte am Ende nicht sterben.
Die Geschichte selbst ist dramatisch genug. Gerade Maggy finde ich in
vielen Momenten sehr emotional, z.B. als sie die Entscheidung trifft,
Lucy dauerhaft bei ihrer Mutter zu lassen, wobei selbst nicht ganz an
das glaubt, was sie da sagt. Sobald sie Gordon trifft, relativiert sie
ja die Endgültigkeit ihrer Entscheidung und sagt „Die bleibt
jetzt erst mal dort...“
Natürlich hängt Maggy wegen Lucy viel Zuhause herum. Aber sie
hat Ziele, an denen sie arbeitet. Sie lernt Gordon näher kennen,
wie sie es sich vorgenommen hat, sie zieht bei ihrer Mutter aus und versucht,
ein Erwachsenenleben zu leben. Sie will es besser machen als ihre Mutter.
Aber sie hat kein eigenes Ideal und greift zurück auf Vorstellungen
von Familie, die sie vielleicht eher aus dem Fernsehen kennt.
Suchen Ihre Figuren nach dem Glück?
Vor allem Maggy sucht, und es gibt immer wieder glückliche Momente
für sie und Gordon, beim Eisessen, beim Kauf der Waschmaschine, beim
Grillen auf dem Balkon. Das sind aber auch Situationen, von denen sie
glauben, dass sie damit glücklich werden müssten. Zum Teil sind
sie es, zum Teil spielen sie da eben auch Erwachsensein. In diesem Spiel
sind sie kurz glücklich, dann aber ist das Spiel vorbei. Das Glück
hält nicht an. Dafür gibt es einige äußere Faktoren,
für die Maggy nichts kann. Gordon zum Beispiel verschwindet öfter,
als sie sich das vorgestellt hat. Es gibt aber auch ein Gefühl der
Leere, das mit ihr zu tun hat, und die Erkenntnis, dass Glück flüchtig
ist.
Gordon und Maggy erklären an einer Stelle, dass sie sich das
Leben „relaxter“ vorgestellt hätten. Drückt sich
darin eine allgemeine Scheu vor der Verantwortung aus?
Ich finde, es geht vor allem darum, dass beide ihre Vorstellungen, wie
ihr Leben aussehen soll, nicht richtig artikulieren können, dass
sie nur eine vage Vorstellung davon haben. Es tauchen immer wieder Versatzstücke
bekannter Rollenspiele auf, denen sie nicht wirklich etwas Eigenständiges
entgegenzusetzen haben. Wenn Maggy ihr Kind wickelt, will sich das richtige
Gefühl zu dieser Tätigkeit irgendwie nicht einstellen. Sie liebt
ihre Tochter, aber gleichzeitig nimmt sie sie wie einen Fremdkörper
wahr, für den sie noch kein Gefühl hat.
Gerade in den Konfliktsituationen scheint viel Sprachlosigkeit auf...
Es geht um Figuren, die nicht viel miteinander sprechen, wobei es eben
auch Momente gibt, in denen sehr viel geredet wird, in der Bar-Szene gegen
Ende zum Beispiel. Ich denke, es ist wichtig, dass die Art, wie die Figuren
miteinander sprechen, etwas Grundsätzliches über die Beziehungen
erzählt, statt nur Informationen zu vermitteln.
Mit welchen filmischen Mitteln wollten Sie ‚Lucy‘ erzählen?
Klassenfahrt spielte am Meer, das für sich schon eine starke
metaphorische Wirkung hat. Außerdem fanden wir die Räume, in
denen der Film spielt, einfach vor. Lucy dagegen spielt in Räumen,
die fast alle ausgestattet werden mussten. Wir haben deshalb exakter aufgelöst
und ein präzises Licht- und Bildkonzept erstellt.
Um die Orte zu finden, haben wir im Vorfeld zusammen mit der Kamerafrau
Christine A. Maier und der Szenenbildnerin Reinhild Blaschke viel fotografiert
und Videoaufnahmen von Orten gemacht, die uns interessiert haben. Zum
Teil haben wir die Szenen an diesen Orten durchgespielt und uns selbst
dabei gefilmt. Wichtig war uns, dass am Ende ein zusammenpassendes Ganzes
dabei herauskommt und die Orte den Stimmungen der Protagonisten entweder
entsprechen oder ihnen etwas entgegensetzen.
Warum haben Sie auf den Einsatz von Musik aus dem Off verzichtet?
Das hat mit der grundsätzlichen Haltung zu tun, mit der ich erzähle.
Ich gebe dem Zuschauer die Freiheit zu interpretieren. Ich will nicht
sagen: Jetzt musst du Angst haben, oder: Ist doch herrlich, dass
sich die beiden jetzt gefunden haben.
Ich persönlich mag es als Zuschauer lieber, selbst ein Verhältnis
zu einer Figur aufbauen zu können, ohne vom Autor zu einer Emotion
gedrängt zu werden.
Wie sehr kann Film heute noch so etwas wie Wirklichkeit darstellen?
Mir geht es nicht in erster Linie darum, Wirklichkeit darzustellen. Ich
will eine Geschichte erzählen, bei der ich auf Sachen und Situationen
zurückgreife, die ich aus dem Leben kenne, nicht nur aus Filmen.
Aber ich mag es auch, wenn eine Wohnung im Film aussieht wie eine echte
Wohnung. Dieser Aspekt betrifft auch stark die Arbeit mit den Schauspielern.
Es beeindruckt mich immer, wenn Schauspieler einen Text genau so sagen,
wie sie „Hallo“ sagen, wenn sie jetzt zur Tür hereinkommen.
Im Endeffekt ist es dann doch wieder ein Realismusanspruch.
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